Ein eingefrorenes
Segelschiff
Ein eingefrorenes Segelschiff als unser
Symbol einer eindrucksvollen
Führungsarbeit in der Bewältigung einer
extrem schwierigen Herausforderung.
Autor: Norbert Köhler
Der berühmte Polarforscher Sir Ernest Henry
Shackletons war Expeditionsleiter einer
Südpol-Expedition in den Jahren 1914 bis
1916. Obwohl er sein
eigentliches Ziel verfehlte,
gelang es Shackleton unter
schwierigsten Bedingungen
alle seine Männer sicher nach Hause zu
bringen, nachdem ihr Schiff im abgelegenen
Eismeer untergegangen ist. Dies gelang ihm
durch Einsatz besonderer
Führungsqualitäten, die er sich in mehr als
zwei Jahrzehnten perfektioniert hatte. Seine
Risikobereitschaft und seine
Überlebensstrategie erscheinen besonders
relevant für das heutige unternehmerische
Denken. Shackleton stand vor vielen
Problemen, die auch heutigen
Führungskräften vertraut sind: Er musste eine
heterogene Gruppe dazu bringen, auf ein
gemeinsames Ziel hinzuarbeiten, sich mit
ewigen Neinsagern auseinander setzen, die
unverbesserlichen Pessimisten aufmuntern
und die Unzufriedenen davon abhalten, die
Atmosphäre zu vergiften.
Dabei schien Shackleton so gar nicht in das
Bild einer erfolgreichen Führungskraft zu
passen. Als Jugendlicher war er sehr
introvertiert, interessierte sich mehr für
Bücher als für Sport und wuchs, umgeben
von fast ausschließlich weiblichen
Familienmitgliedern, liebevoll umsorgt auf. Er
brach seine Schule sehr früh ab und wurde
zum Leidwesen seines Vaters Schiffsjunge.
Aber er arbeitete hart, mit 24 hatte er sein
Kapitänspatent erworben und konnte jedes
Schiff der Handelsmarine kommandieren.
Aussagen von Peter Drucker und Fredmund
Malik verweisen auf die Wichtigkeit sozialer
Kompetenzen in Krisensituationen. Diese
sicherten nicht nur maßgeblich das
Überleben der Expeditions-Teilnehmer,
sondern gewinnen auch im heutigen
Management zunehmend an Bedeutung.
Im August 1914 verließen unter der Leitung
von Sir Ernest Henry Shackleton 27 Männer
von London aus mit dem Schiff "Endurance"
ihre Heimat in Richtung Antarktis. Es sollte die
erste Durchquerung des antarktischen
Kontinentes werden. Shackleton plante, mit
sechs Männer und 70 Hunden in der Vahsel
Bay an Land zu gehen und ziemlich genau
gegenüber, auf der anderen Seite des
antarktischen Kontinents, auf ein zweites
Schiff zu treffen. Die Mannschaft dieses
Schiffes sollte von ihrem Ausgangspunkt bis
fast an den Südpol eine Reihe von
Proviantlager anlegen. Auf ihrer Reise im
Weddellmeer Richtung Süden stießen
Shackleton und seine Männer ungewöhnlich
früh auf Packeis (7. Dezember). Schon bald
geriet die Endurance in die Fänge des
Packeises, rund 2.000 Kilometer vor dem Ziel.
Mühsam manövriert die Crew das Schiff
durch Eisschollen und Fahrrinnen. Anstatt
umzudrehen segelten und dampften sie
weiter. Dann der 19. Januar 1915: Die
"Eisfalle" schnappt zu, die Endurance ist
eingefroren - mitten im antarktischen
Sommer. Sie waren nur 80 Meilen von der
geplanten Landungsstelle entfernt, aber die
Endurance steckte endgültig im Packeis fest.
Ernest Shackleton lässt das Schiff für die
Überwinterung vorbereiten. Die Besatzung
zieht in den wärmenden Bauch des Schiffes.
Im Mai geht für drei Monate die Sonne unter.
Das anbrechende Frühjahr bringt das Eis in
Bewegung, die Endurance droht unter dem
Druck der Eisschollen zu zerbersten.
Der 27. Oktober wird zum Schicksalstag für
die Besatzung: Das Expeditionsteam verlässt,
gerade noch rechtzeitig, das Schiff. Am
nächsten Morgen wird das Schiff von den
Eismassen zusammengeschoben, das
Vorderdeck überflutet, die Offiziersmesse zu
drei Vierteln mit Eis gefüllt. Ab dem 327. Tag
der Reise ist die Besatzung gezwungen, zu
Fuß weiter durch eine weiße Wildnis zu
ziehen. Doch die Schiffbrüchigen schaffen
wegen zahlreicher Umwege zwischen den
gigantischen Eismassen nur wenige Kilometer
am Tag. Es folgt eine Zeit des Wartens, denn
die Shackleton-Expedition ist vom Eis
eingeschlossen. Über drei Monate campieren
die Forscher im "Patience Camp", dem
Gedulds-Camp und treiben auf dem Packeis
Richtung Norden. Erst im April des folgenden
Jahres öffnen sich Wasserrinnen zwischen
den gefrorenen Eisschollen und die Männer
nutzen ihre Chance. Am 9. April 1916
erreichen sie die Eiskante und lassen drei
Rettungsboote zu Wasser, die sie von der
Endurance mitgenommen hatten. Auf diesen
drei kleinen Rettungsbooten segeln sie unter
schwierigsten Bedingungen und erreichen
endlich am 15. April 1916, dem 498. Tag der
Reise, wieder erstmals Land. Die Shackleton-
Crew erreicht die Elefanteninsel in Süd-
Shetland.
Doch sollten noch fünf Monate bis zur
endgültigen Rettung vergehen. Denn die
Elefanteninsel ist unbewohnt. Niemand wird
die Abenteurer dort vermuten und
vorbeikommen, um das Team zu retten. Zu
guter Letzt traf Ernest Shackleton eine sehr
gewagte, aber die rettende Entscheidung: In
einem winzigen Rettungsboot macht er sich
mit einigen Männern auf den Weg, um Hilfe
zu holen.
Diese 800 Meilen lange Überquerung des
gefährlichsten, windigsten und kältesten
Ozeans der Welt, in ständiger Nässe und
zahlreichen Gefahren ausgesetzt, gilt noch
heute als eine der unglaublichsten
Leistungen. Es gab nur wenige Minuten am
Tag, die eine Peilung der Position erlaubte.
Schon die geringste Kursabweichung hätte zu
einem Verfehlen ihres Zieles, der Insel South
Georgia, geführt. Umdrehen war auf Grund
der Luftströmungen nicht möglich und die
nächsten 3000 Meilen boten keine
Landungsmöglichkeiten.
Als sie nach 17 Tagen völlig erschöpft und
ständig durchnässt in South Georgia
ankamen, landeten sie auf der unbewohnten
Seite der Insel. In einem letzten Kraftakt
kletterte Shackleton mit seinen Begleitern 36
Stunden lang über das gebirgige, unbekannte
Landesinnere. Dort gab es Walfangstationen,
von denen sie sich Hilfe für die restliche Crew
erhofften. Bei der anschließenden
Rettungsaktion wurden alle Crewmitglieder
lebend geborgen. Sie waren 635 Tage in der
Antarktis verschollen und Shackleton hat sie
alle relativ gesund wieder zurück geführt.
Als die Endurance 1914 in See stach, war
Shackleton 40 Jahre alt und ein erfahrener
Expeditionsleiter. Er hatte keine Illusionen
mehr hinsichtlich der Vollkommenheit von
Menschen oder Vorräten; er wusste, dass das
Eis beide zerstören konnte und dass der
Erfolg oder das Scheitern des Vorhabens
letztendlich allein von ihm abhängen würde.
Er war zu einem klugen, erfahrenen Führer
mit großem Selbstbewusstsein herangereift.
Aus seiner Erfahrung wusste er, welche
Eigenschaften Expeditionen zum Scheitern
bringen können: kleinliches Denken,
verantwortungslose Vorgesetzte,
unerträgliche Arbeitsbedingungen,
mangelndes Vertrauen und fehlenden
Respekt zwischen Mannschaftskameraden.
Weil er Verschwendung nicht ausstehen
konnte, arbeitete er sehr rationell, was
manche fälschlicherweise für Ungeduld oder
Unbarmherzigkeit hielten. Er vergeudete
keine Zeit mit leeren Gesten; er
verschwendete keine Energie mit der
grundlosen Disziplinierung anderer. Seine
ganze Freizeit verbrachte er damit, zu lesen
und Pläne zu schmieden.
Er wusste, was nicht funktionierte: eine
starre, distanzierte, ungerechte und
unsichere Führung. Auf der Endurance
konzentrierte er sich daher auf den
wichtigsten Aspekt, der ihm die beste Chance
gab, seine Ziele zu erreichen: Einigkeit. Der
Aufbau einer solidarischen und loyalen
Mannschaft war die Grundlage für
Shackletons Führungsansatz. Für ihm war
Teamgeist mehr als ein Erfolgsfaktor.
Kameradschaft war bereits ein
eigenständiges Ziel. Er liebte seine
Mannschaft immer, wenn auch nicht immer
jedes einzelne Mitglied. Er genoss geradezu
seine Aufgabe, eine Bindung zwischen und zu
den einzelnen Männern aufzubauen.
Shackleton beurteilte die Leistungen seiner
Männer in zweierlei Hinsicht: ob sie ihre
Sache gut machten und ob sie loyal waren.
Loyalität war eindeutig das wichtigere
Kriterium. Er stellte auf einzigartige Weise ein
Gleichgewicht zwischen der Arbeit der
Wissenschaftler und der Seeleute her. Den
Wissenschaftlern übertrug er ihren Anteil an
den täglichen Pflichten an Bord; gelegentlich
mussten sie ihre wissenschaftliche Arbeit
wegen dringlicherer Tätigkeiten zurückstellen.
Umgekehrt mussten die Matrosen bei
wissenschaftlichen Messungen und der
Entnahme von Proben mithelfen. Selbst der
Koch bekam einen eigens angelernten
Gehilfen. Teilweise war Shackletons Strategie
darauf zurückzuführen, dass er aus der Not
eine Tugend machen musste. Zugleich
durchbrach er damit aber auch die
traditionelle Seefahrtshierarchie und erzielte
den nützlichen Effekt, sich eine Mannschaft
von Generalisten heranzuziehen, die sich mit
allen Arbeiten an Bord auskannten.
Wenn man Menschen entwickeln will, muss
man von ihnen etwas verlangen. Das steht
ganz im Gegensatz zu den üblichen
Gepflogenheiten – nämlich etwas zu bieten.
Viele der heutigen übertriebenen
Versprechen auf Karriereaussichten
verderben vor allem junge Mitarbeiter und
behindern ihre Entwicklung.
Shackleton gab sich die größte Mühe, alle
Männer stets gerecht zu behandeln. Er hatte
sich eine klare Meinung über jeden seiner
Männer gebildet, aber behielt diese für sich.
Verletzte Gefühle und Beleidigungen wurden
vom ihm sehr ernst genommen. Seine
Männer berichteten, dass er jedes Mal, wenn
er das Gefühl hatte, mit jemandem zu hart
umgesprungen zu sein, die Unstimmigkeit
durch ein klärendes Gespräch unter vier
Augen aus der Welt schaffte. Er gab einem
sofort das Gefühl, dass die Beziehung zu ihm
wieder im Lot war. Shackleton ging immer mit
gutem Beispiel voran. Er verlangte von
niemandem, Arbeiten zu verrichten, zu denen
er selbst nicht bereit war. Shackleton legte
auch bei den unangenehmsten Arbeiten mit
Hand an, wenn dies nötig war. Wenn einer
seiner Männer krank oder verletzt war,
übernahm er meistens dessen Pflichten. Er
half dabei, schwere Gegenstände zu heben,
zu putzen und verlegte sogar Linoleum. „Er
hat die Offiziersmesse weitaus besser geputzt
als die meisten Nachtwachen“, schrieb einer
seiner Männer. Seine Mitarbeit hatte viele
Vorteile: Er konnte mit gutem Beispiel
vorangehen und zeigen, wie er sich die
Erledigung der Arbeiten wünschte, er konnte
besser verstehen, welche Mühen mit den
einzelnen Aufgaben verbunden waren,
konnte die Stärken und Schwächen der
einzelnen Männer besser einschätzen, verlieh
allen Pflichten an Bord eine gewisse Würde,
und er stärkte sein eigenes Ansehen in der
Mannschaft. Vor allem aber ermöglichte ihm
diese Präsenz, eine gute persönliche
Beziehung zu seinen Männern aufzubauen.
Shackleton stellte ein Gleichgewicht zwischen
Arbeit und Vergnügen her. Dabei trennte er
zwar die beiden Bereiche nicht völlig
voneinander, ließ aber niemals zu, dass einer
überhand nahm. Obwohl er viele besondere
Feste veranstaltete, erwartete er von den
Männern ebenso, dass ihnen die Arbeit Spaß
machte, da sie dann seiner Meinung nach
produktiver waren. Shackletons
Bemühungen, das Gemeinschaftsgefühl
seiner Männer zu stärken, zahlten sich aus,
als die Lage Besorgnis erregend wurde. Am
18. Januar 1915, als die Endurance nur eine
Tagesstrecke von ihrer geplanten Landestelle
entfernt war, gaben die Männer nicht
Shackleton die Schuld, sie in diese Lage
gebracht zu haben. Wenn überhaupt, dann
tat es ihnen leid, dass er derjenige war, dem
eine persönliche Katastrophe drohte, der sein
Geld, das Vertrauen seiner Gönner und
vielleicht sogar seinen hart erarbeiteten Ruf
verlieren würde. Aber Shackleton, der
Optimist, gab noch nicht auf.
Für die richtige Auswahl entwickelte
Shackleton Grundsätze, die in unseren
Seminaren eine wichtige Grundlage bilden.
Shackleton plante diese Expedition sehr
detailliert und visualisierte sich alle wichtigen
Schritte. Er besaß die Eigenschaften
effizienter Führungskräfte in der Wirtschaft:
jener Manager, die es verstehen, sich
geschickt dem immer schnelleren Wandel
anzupassen. Shackleton weckte in seinen
Männern den Wunsch, ihm zu folgen; er
zwang sie nicht dazu. Dabei änderte er das
Bild, das die Männer in seiner Mannschaft
von sich und der Welt hatten. Seine Arbeit
inspirierte nicht nur sie ihr Leben lang,
sondern beflügelt noch heute Menschen auf
der ganzen Welt. Seine wichtigsten
Werkzeuge in der Führung waren Humor,
Großzügigkeit, Intelligenz, Stärke und
Anteilnahme.
Nach den Aussagen von Peter Drucker und
Fredmund Malik alles Eigenschaften, die in
der heutigen modernen Wirtschaft als „soft
skills“ gefragt sind und auch künftig die
Führungseffizienz in schwierigen
betrieblichen Situationen bestimmen werden.
Literaturquellen:
Drucker, Peter F. (2002): Was ist
Management? Das Beste aus 50 Jahren,
München: Econ Ullstein List.
Lansing, Alfred (2000): 635 Tage im Eis. Die
Shackleton-Expedition, Berlin: Goldmann
Malik, Fredmund (2002): Führen – Leisten –
Leben. Wirksames Management für eine
neue Zeit, 3. Aufl., München: Heyne.
Morrell, Margot/Capparell, Stephanie (2003):
Shackletons Führungskunst. Was Manager
von dem großen Polarforscher lernen
können, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.